Von (Neo)Generalisten und Wissenschaftsnomaden

Als vielseitig aufgestellter Generalist hat man es auf dem deutschen Arbeitsmarkt schwer. Die fehlende geistige Heimat und die unklare Expertise verunsichern – einen selbst, aber auch Arbeitgeber. Im Angesicht der Anforderungen unserer sich ständig und zunehmend schneller ändernden Welt werden Generalisten als Kompetenz-Experten für Wandel, Innovation und Komplexität jedoch schon jetzt mehr gebraucht denn je.

Inhaltsverzeichnis

Muss ich eine Expertise aufbauen?

Ein buntes Studium

Ich war sehr gerne Studentin. Jedes Semester und jeder Kurs bot mir die Möglichkeit, mich mit einem anderen Themenfeld auseinanderzusetzen und etwas Neues zu lernen. Durch den Bologna-Prozess und die Umstellung auf ein Bachelor-Master-System waren meine Möglichkeiten, über den Tellerrand meines Fachbereichs hinaus zu sehen, zwar eingeschränkt, aber trotzdem war mein Studium insgesamt recht bunt: Im Bachelor lernte ich viel über Theater und die bildenden Künste, im Master dann konzentrierte sich alles auf Filme, Fernsehformate und audiovisuelle Medienprojekte und während der Promotion beschäftigte ich mich mit Serien, Körperpolitik und Feminismus.

Filme und Serien sind aus meiner Sicht sehr dankbare wissenschaftliche Untersuchungsobjekte. Jeder Film und jede Serie bieten potenziell den Einstieg in eine andere Welt und damit auch in die Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Themen. Unter anderem durfte ich mich so bereits mit synästhetischer Wahrnehmung, subversiven politischen Strömungen, Persönlichkeitsspaltungen, der Wrestling-Kultur und Komik-Erzählstrategien auseinandergesetzt. Und auch die filmtheoretischen Ansätze bedienen sich aus ganz unterschiedlicher Disziplinen wie beispielsweise der Psychoanalyse oder den Neurowissenschaften.

Für meinen akademischen Werdegang wäre es trotzdem strategisch sinnvoll gewesen, mich ab dem Master zu spezialisieren. Aber die spannende Vielseitigkeit des Untersuchungsfelds Film hat mich einfach zu sehr angesprochen, als dass ich mich auf nur einen Themenkomplex oder eine Forschungsströmung hätte fokussieren wollen.

Generalistin auf Jobsuche

Spätestens seit ich aus dem Wissenschaftsumfeld aus- und in die freie Wirtschaft eingestiegen bin, merke ich, dass meine fehlende Spezialisierung ein Problem darstellt – zumindest für Arbeitgeber. In Bewerbungsgesprächen werde ich wiederholt nach meiner fehlenden Expertise befragt und wieso ich mich nicht auf einen Job in der Filmbranche bewerbe. Dass meine Faszination für Film und Filmwissenschaft wenig bis gar nichts mit der Filmproduktion zu tun hat und ich deshalb einen anderen Beruf ergreifen möchte, verstehen die wenigsten. Häufig habe ich den Eindruck, dass vor allem Personaler einfach nicht so ganz wissen, wie sie mich einordnen sollen. Dass meine Berufserfahrungen genauso bunt sind wie mein Studium und unter anderem die Bereiche Prozessmanagement, Business Training und Online Marketing umfassen, macht es nicht einfacher.

Generalisten als Arbeitskräfte der Zukunft

Ich finde es schade, dass man es als Generalistin in der freien Wirtschaft nach wie vor schwer hat. Ständig wird einem das Gefühl vermittelt, man könne zwar vieles, aber nichts so richtig und sei damit auf dem Arbeitsmarkt schwer einsetzbar. In Anbetracht der Tatsache, dass jegliches Fachwissen mittlerweile nur eine Google-Suchanfrage entfernt liegt, wundert es mich sehr, dass nach wie vor auf Expertise gepocht wird. Denn wenn man sich die Anforderungen unserer sich ständig und zunehmend schneller ändernden Welt ansieht, würde ich behaupten, dass Generalisten schon jetzt mehr gebraucht werden denn je.

Als vielseitig aufgestellter Generalist hat man es auf dem deutschen Arbeitsmarkt schwer. Die fehlende geistige Heimat und die unklare Expertise verunsichern – einen selbst, aber auch Arbeitgeber. Im Angesicht der Anforderungen unserer sich ständig und zunehmend schneller ändernden Welt werden Generalisten als Kompetenz-Experten für Wandel, Innovation und Komplexität jedoch schon jetzt mehr gebraucht denn je.

Was ist ein Generalist?

Beginnen wir klassisch mit einer Begriffsdefinition: Ein Generalist ist eine Person, die eine breite Palette von Wissen und Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen besitzt, anstatt sich wie Spezialisten oder Experten tief in ein bestimmtes Fachgebiet einzuarbeiten.

Typischerweise ordnet man Generalisten folgende Eigenschaften zu:

  1. Neugierde: Generalisten sind neugierige Menschen. Sie haben Freude daran, neues Wissen zu erlangen und neue Erfahrungen zu sammeln und sind offen gegenüber neuen Ideen und Ansätzen.
  2. Breites Wissen: Eben weil Generalisten sich gerne und schnell in neue Themen einarbeiten, verfügen sie über ein breites Spektrum an Wissen in verschiedenen Bereichen.
  3. Anpassungsfähigkeit: Generalisten sind flexibel und können sich in verschiedenen Umgebungen und Situationen gut zurechtfinden. Sie passen sich schnell neuen Anforderungen an und können sich auf veränderte Bedingungen einstellen.
  4. Kommunikationsfähigkeit: Weil Generalisten eher breit aufgestellt sind und Themen weniger im Detail, dafür aber in ihrem Kern begreifen, sind sie gut darin, komplexe Ideen für sich und andere herunterzubrechen und verständlich zu vermitteln. Das macht sie zu exzellenten Kommunikatoren, die Brücken zwischen verschiedenen Teams oder Abteilungen bauen können.
  5. Problemlösungskompetenz: Aufgrund ihres breiten Wissens und ihrer vielseitigen Erfahrungen sind Generalisten oft gute Problemlöser. Sie erkennen schneller Zusammenhänge, auch zwischen scheinbar unzusammenhängenden Bereichen und Themen, können komplexe Probleme analysieren, verschiedene Lösungsansätze abwägen und kreative Lösungen finden.
  6. Teamfähigkeit: Weil Generalisten die Vielfalt von Perspektiven schätzen, arbeiten sie gut und gerne mit diversen Teams zusammen und können unterschiedliche Standpunkte integrieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Natürlich können diese Eigenschaften von Person zu Person variieren und sind nicht in jedem Generalisten in gleichem Maße ausgeprägt. Aber die Auflistung der Generalisten Eigenschaften bietet eine allgemeine Vorstellung davon, was diesen Menschen-Typus ausmacht.

Die Future Skills der Generalisten

Vor kurzem habe ich in Business Punk einen Artikel gelesen, in dem es um Future Skills, ging, die jeder Arbeitnehmende haben sollte.

Die Autoren bemerken richtigerweise, dass unsere Arbeitswelt sich aktuell durch Neuerungen wie KI und den demografischen Wandel stark und schnell verändert. Diese Veränderungen in unserer Arbeitswelt wirken sich wiederum auf die Anforderungsprofile für neue Mitarbeitende aus. Um auch in Zukunft noch auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, benötigen Arbeitnehmer laut Business Punk folgende vier Future Skills:

  1. Kreative Problemlösung
  2. Zwischenmenschliche Fähigkeiten
  3. Anpassungsfähigkeit
  4. Technisches Verständnis

Und siehe da: Drei der vier Future Skills stimmen mit den Eigenschaften von Generalisten an: Problemlösungskompetenz und Anpassungsfähigkeit werden explizit in beiden Eigenschafts-Profilen genannt und was Business Punk als zwischenmenschliche Fähigkeiten beschreibt, lässt sich gut mit den Generalisten-Eigenschaften Kommunikationsstärke und Teamfähigkeit in Einklang bringen.

Lediglich das technische Verständnis ist den Generalisten nicht automatisch in die Wiege gelegt. Wenn man jedoch bedenkt, dass die neugierigen Generalisten sich gerne und schnell in neue Themen einarbeiten, stellt auch der Aufbau von technischen Fähigkeiten selten ein Problem dar. Ich bin das beste Beispiel: Im Studium habe ich mich mit Theaterinszenierungen, Filmen und Objekten aus den bildenden Künsten auseinandergesetzt, im Arbeitskontext dagegen faszinierten mich schon früh CRMs, Wissensmanagementsysteme und andere arbeitserleichternde, digitale Tools. Unter Zuhilfenahme dieser Tools habe ich, die Kunst- und Geisteswissenschaftlerin, sogar (teil)automatisierte Prozesse erstellt. Und das ist mir eben deshalb gelungen, weil ich als Generalistin vielseitig interessiert bin und mich gerne in neue Bereiche einarbeite.

Neogeneralisten als Experten für Wandel und Komplexität

Kürzlich bin ich außerdem über den Begriff „Neogeneralisten“ gestolpert. Er wurde von Kenneth Mikkelsen und Richard Martin in ihrem Buch „The Neo-Generalist: Where You Go Is Who You Are“ geprägt – einer Hommage an die Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Geistes und ein Plädoyer für eine breite und integrative Herangehensweise an das Leben und die Arbeit. Insgesamt ähneln die von Mikkelsen und Martin beschriebenen Neogeneralisten herkömmlichen Generalisten, jedoch überschreiten sie ganz bewusst Grenzen von Fachgebieten und Disziplinen, haben eine hohe Toleranz für Ambiguität und Unklarheit und eine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit. Das macht sie zu exzellenten Navigatoren in einer zunehmend komplexen und vernetzten Welt, and deren sich schnell ändernden Umstände sie sich bestens anpassen können. In diesem Sinne kann man (Neo)Generalisten dann doch als Experten betrachten: Sie sind keine Fach-Experten, aber sie sind Kompetenz-Experten für Wandel und Komplexität.

“These (generalists) are people who possess both a breadth and depth of skills, knowledge and experience. These are most definitely not jack of all trades, masters of none. Rather, they are people who have the potential, the attitude and the aptitude to specialise in more than one discipline, and are adept at navigating the digital, networked world we inhabit today." (Mikkelsen und Martin)

Wissenschaftsnomaden: Die Neogeneralisten der akademischen Welt

Dass (Neo)Generalisten Spezialisten für Wandel und Komplexität sind, betont auch Prof. Dirk Brockmann. Er ist passenderweise Komplexitätsforscher und beschreibt sich selbst als Wissenschaftler, der bewusst fachliche Grenzen überschreitet, um neue Perspektiven einzunehmen und Lösungswege zu finden.

Im Murakamy Podcast beschreibt Brockmann sein Arbeiten als anti-disziplinär. Im Gegensatz zum interdisziplinären Arbeiten, das Brockmann als „aufgesetzt“ empfindet, weil in diesen Runden jeder nach wie vor das vermittelt, was er selbst weiß, ist anti-disziplinäres Arbeiten eine vorsätzliche Überschreitung von Fachgrenzen in der eigenen Arbeit. So beschäftigt sich der studierte Physiker und Mathematiker Brockmann beispielsweise auch mit Biologie und Phänomenen wie Vogelschwärmen, um Erkenntnisse aus diesen natürlichen Systemen auf menschliche Systeme zu übertragen. Es sind diese Systeme, die ihn interessieren. Die wissenschaftlichen Methoden oder Expertisen sind für ihn zweitranging.

Brockmann erklärt richtigerweise, dass jede einzelne Disziplin mittlerweile so viel Wissen produziert, dass ein einzelner diese gar nicht mehr abspeichern kann. Zudem ist dieses Wissen nur eine Google-Suche entfernt. Wichtiger als ein Abspeichern von Wissen ist für Brockmann deshalb das Freischalten von Kapazitäten: Es braucht Methoden, um mit diesem enormen Informationsvolumen umzugehen, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zu erkennen, Verbindungen zu sehen und Gesetzmäßigkeiten zu übertragen.

Und es sind die anti-disziplinär arbeitenden Neogeneralisten, im akademischen Kontext auch Wissenschaftlicher Misfit oder Wissenschaftsnomaden genannt, die im besonderen Maße dazu in der Lage sind, solche Kapazitäten freizuschalten und ein holistisches Bild von komplexen Phänomenen zu generieren.

Heimatlose Neogeneralisten und Wissenschaftsnomaden in Deutschland

Erfolgsgeschichten von Wissenschaftsnomaden wie Alexander von Humboldt und Galileo beweisen, dass über den Tellerrand der eigenen Fachdisziplin hinauszusehen ein großes Potenzial für Innovation in sich birgt.

Trotzdem, so Brockmann, sind gerade in Deutschland Abgrenzungen nach wie vor sehr wichtig. Wissenschaftsnomaden fehlt die geistige Heimat und damit oftmals das Gefühl der Legitimation. Wer keine Expertise hat, wird im deutschen Wissenschaftskulturraum nicht ernst genommen – und dies gilt, möchte ich ergänzen, auch für den deutschen Arbeitsmarkt.

Generalistentum als Lebenshaltung

Eben weil ich selbst erfahren musste, dass Spezialisierungen in Deutschland immer noch so wichtig sind, habe ich eine Zeit lang versucht, mich als Expertin zu verkaufen. Immerhin habe ich einen Doktortitel, war mein Gedanke, und ein Doktortitel steht nach wie vor für Expertise. Das Problem war jedoch: Immer wenn es mir hier und da gelang, mich als Spezialistin für den Bereich X zu verkaufen, verlor ich schnell die Freude an meiner Arbeit. Ich möchte eben nicht tagein tagaus Prozessdiagramme erstellen. Ebenso wenig möchte ich immer Übersetzungsarbeit leisten. Nicht einmal Film-Seminare möchte ich durchwegs abhalten. Ich möchte, dass mein Arbeitsalltag bunt ist – so bunt, wie es mein Studium war und wie das Leben ist.

Generalistentum ist für mich eine Lebenshaltung, die meine Neugierde, Offenheit für neue Erfahrungen und die Bereitschaft zur kontinuierlichen Weiterentwicklung und Selbstverbesserung umfasst. Im Arbeitsleben habe ich hier und da Personen kennengelernt, die die Profitabilität einer solchen Lebenshaltung und damit auch meinen Mehrwert als Arbeitnehmerin erkannt haben. Überwiegend ist jedoch auch mir das begegnet, was Brockmann in Bezug auf die Wissenschaftsnomaden in Deutschland beschreibt: Die fehlende geistige Heimat und die unklare Expertise verunsichern – einen selbst, aber vor allem das Gegenüber.

Das bedeutet nicht, dass man sich als Generalist in ein einengendes berufliches Korsett zwängen lassen sollte. Als Experte zu arbeiten, obwohl man Generalist ist, macht auf kurz oder lang sehr unglücklich und das sollte man tunlichst vermeiden, denn:

„Wir Menschen können, weil wir schlau sind, wahnsinnig erfolgreich und gut in Dingen werden, die mit unserem inneren Fundament fast nichts zu tun haben. Und das ist ein ziemlich sicherer Weg in den Burnout und noch schlimmere Dinge.“ (Nico Rose)

Ich bin jedoch zuversichtlich: Die veränderte Arbeitswelt wird auf kurz oder lang auch veränderte Einstellungskriterien hervorbringen und dann werden auch die Eigenschaften und Kompetenzen von Generalisten in vielen Arbeitsbereichen sehr gefragt und gezielter von Arbeitgebern gesucht werden.

Quellen:

Murakamy Podcast: „#69 Wie navigiert man in Komplexität mit Prof. Dirk Brockmann“. veröffentlicht am 08.02.2024, URL: https://open.spotify.com/episode/65UFv1gyCYnotATV3tth1t (Letzter Zugriff am 20.02.2024)

Business Punk: „Diese vier Future Skills muss jeder Arbeitnehmende haben“, veröffentlicht am 16.02.2024, URL: https://www.business-punk.com/2024/02/diese-vier-future-skills-muss-jeder-arbeitnehmende-haben/ (Letzter Zugriff am 20.02.2024)

Mikkelsen, Kenneth und Martin, Richard: „The Neo-Generalist: Where You Go Is Who You Are“, LID Publishing, 2016.

Bilder: 

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copyright @unsplash (Alex Shute, Aarón Blanco Tejedor, Ed Stone)

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