Es ist mir nicht egal, was andere über meinen Körper denken

Ein Beitrag über Körperwahrnehmung vor, während und nach der Chemo und über unsere gesundheitsschädigenden Körperideale

Inhaltsverzeichnis

25 Kilo abgenommen - hurra (?)

2023 nahm ich in nur wenigen Monaten knapp 25 Kilo ab. Dass ich anders aussah, bemerkte ich erst so richtig, als mich immer mehr Menschen auf der Straße anlächelten und Freundinnen mich fragten, wie ich es geschafft hatte, so viel abzunehmen. Es gefiel mir, endlich einmal schlank zu sein und ich mochte die neu gewonnene Aufmerksamkeit. Richtig wohl fühlte ich mich aber nicht. Der schnelle Gewichtsverlust war überfordernd für mich. Es war, als wäre mein Körper an mir vorbeigezogen und ich müsste mich erst wieder neu in ihm einrichten. Vieles fühlte sich fremd an. Ich erwischte mich oft dabei, wie ich meine schmalen Finger inspizierte und gedankenverloren über meinen Hals und das nun fehlende Doppelkinn strich. Sogar den Rippenbogen konnte man in meinem Dekolleté deutlich erkennen. Ich sah nicht wie ich aus und das irritierte mich. Trotzdem war ich der Überzeugung, dass meine Selbstwahrnehmung sich nur erst einmal an den neuen Körper gewöhnen müsse. Danach würde sich alles regeln.

So weit kam es jedoch nie.

Vom ungesunden Körper zum ungesunden Gewichtsverlust

Ich hatte alles andere als gesund abgenommen. Andererseits war ich auch davor alles andere als gesund gewesen. Ende 2022 war für mich eine emotionale Stresshochphase gewesen. Ich trank fast täglich Alkohol, hatte ein unregelmäßiges Klopfen im Ohr und Bluthochdruck. Dass ich anfing abzunehmen, lag zunächst nur daran, dass ich stur und über mehrere Stunden hinweg die Isar auf und ab ging: Bewegung, frische Luft, Grün sehen – alles bekannte Hilfsmittel gegen Depressionen.

Nach außen hin funktionierte ich im Alltag und in der Arbeit. In Wahrheit aber fiel vieles unter den Tisch – so auch oft das Essen. An mehreren Tagen lauschte ich abends im Bett verwundert meinem wütend grummelnden Bauch bis ich bemerkte, dass ich den ganzen Tag über außer Kaffee nichts zu mir genommen hatte.

Um die nie enden wollenden Gedankenströme in meinem Kopf zu beruhigen, versuchte ich zwei Monate lang zu meditieren. Schaffte es aber mehr schlecht als recht, ging wieder spazieren, um zu grübeln, fing irgendwann das Laufen an und merkte, dass die körperliche Anstrengung meine Gedankenströme unterbrach. So wurde eine Jogging-Gewohnheit daraus.

Kein Wunder also, dass ich abnahm.

„Unkontrollierter Gewichtsverlust kann auch ein Anzeichen für Krebs sein“

Der Stress klang trotzdem nicht ab. Es wurde nur noch turbulenter. Erst bekam meine Mutter Brustkrebs, dann kämpfte ich mit Liebeskummer und meinem Selbstwert, dann kündigte ich meinen Job, fing einen neuen Job an, kündigte auch diesen. Ende Juli saß ich heulend vor einer Freundin. Ich war restlos überfordert. Mit allem. Auch mit dem Gewichtsverlust. Nachdem ich mein ganzes Leben lang hatte kämpfen müssen, um abzunehmen, verlor ich nun die Kontrolle in die andere Richtung und konnte den fortwährenden Gewichtsverlust nicht stoppen. „Warst du denn deswegen mal bei deiner Ärztin.“, fragte mich meine Freundin. „Ich will dir wirklich keine Angst machen, aber: unkontrollierter Gewichtsverlust kann auch ein Anzeichen für Krebs sein.“

Mein Gewichtsverlust war jedoch kein Anzeichen für Krebs. Denn der Tumor, den ich nur einen Monat nach diesem Treffen mit meiner Freundin in meiner Brust fand, hatte zum Glück noch nicht gestreut. Tatsächlich war unser Gespräch trotzdem ein zentraler Schlüsselmoment für meine eigene Diagnose. Meine Freundin hatte mich hellhörig gemacht. Dank ihr nahm ich die Beule unter meiner mittlerweile zwei Körbchengrößen kleiner gewordenen Brust sehr ernst.

Mein Körper soll sich nicht verändern

Die ersten beiden Monate nach dem Befund waren die Schlimmsten. Erst waren da diese ganzen ungeklärten Fragen: Hat der Tumor gestreut? Sind die Zysten an meinen Eierstöcken auch bösartig? Habe ich eine Genmutation? Ist meine Schwester auch gefährdet? Und dann kamen die vielen Eingriffe in nur wenigen Wochen: Tumor entfernen, Zysten entfernen, Hormonstimulation, Eizellen entnehmen, Port implantieren.

Ich machte mir viele Gedanken über meine körperlichen Veränderungen: Operationen bedeuten Narben. Viele Operationen bedeuten viele Narben. Verliere ich meine Haare während der Chemo? Und was ist mit der Antihormontherapie? Wie wird mein Körper auf die dadurch künstlich induzierten Wechseljahre reagieren?

Ich wollte nicht, dass sich mein Körper verändert. Nicht noch mehr. Ich hatte mich ja noch nicht einmal mit dem neuen Körpergewicht eingerichtet. Wie sollte mein Kopf mit all diesen Änderungen hinterherkommen?

Nach ingesamt drei Operationen innerhalb von nur fünf Wochen musste ich mich in kürzester Zeit an sechs neue Narben an meinem Körper gewöhnen

Während der Chemo abnehmen

So richtig verrück wurde meine Körperwahrnehmung dann während der Chemo. Auf eine seltsame Art und Weise waren diese 12 Wochen fast schon entlastend für mich. Die Therapietage waren anstrengend, ja. Und gesund fühlte ich mich die ganze Zeit über nicht. Aber wenigstens gab es eine gewisse Routine. Und wenigstens hatte ich jetzt nur noch einen Arzttermin pro Woche und nicht, wie zuvor, bis zu drei Termine täglich. Und als ich so langsam zur Ruhe kam und mich an meinen neuen Alltag gewöhnte, merkte ich, dass ich zugenommen hatte.

Bewegung ist gut für die Gesundheit – auch während der Chemo. „Sie können sich nicht zu viel bewegen. Nur zu wenig.“, hat mir mein onkologischer Pfleger immer wieder gesagt. Und mit meiner Gynonkologin hatte ich vereinbart, die knapp dreieinhalb Kilometer zur Tagesklinik jede Woche zu Fuß zu gehen. Zusätzlich ging ich ins Fitnessstudio und trainierte zu Hause.

Ich redete mir ein, meinem Körper etwas Gutes zu tun. In Wahrheit aber wollte ich schlichtweg abnehmen.

Das bin ich, wie ich während meiner Chemotherapie frustriert im Fitnessstudio auf dem Fahrrad sitze, um abzunehmen.

Wieder zugenommen

Mittlerweile ist seit meinem Befund im Sommer 2023 ein halbes Jahr vergangen. Zwischen Chemo und Bestrahlung habe ich mich am Knie verletzt. Zwei Bänder sind angerissen und ein Knorpel ist verletzt. Operiert werden muss ich zum Glück nicht, aber das Bein ist für 6 Wochen geschient und 12 Wochen lang soll ich „keinen Unsinn machen“, wie mir mein Orthopäde gesagt hat, als ich ihn (natürlich um abzunehmen) gefragt habe, wann ich wieder Sport machen darf.

Ich habe insgesamt etwa 10 Kilo wieder zugenommen. Aber ich trinke selten Alkohol und mich überfallen kaum noch Fressattacken. Und das fühlt sich gut und gesund an. Aber ich mag meinen Anblick auf Fotos nicht. Meine Augen wandern dann automatisch zu meinen Armen, die ich als zu dick empfinde und meinem deutlich runderen Gesicht. Dass ich regelmäßig von den Antikörper-Infusionen aufgedunsen aussehe und die durch die Chemo ausgefallenen Wimpern meine Augen kleiner und das Gesicht dicker wirken lassen, lässt mein gewichtsbesessener Kopf als Ausrede nicht gelten.

Auf meinem Online Dating Profil habe ich immer noch fast nur Fotos aus dem vergangenen Sommer – vor meiner Erkrankung. Und vor jedem ersten Treffen habe ich Angst, was mein Gegenüber wohl denken könnte, wenn er mich sieht und feststellt, dass ich dicker bin als auf den Fotos.

Aufklärungsarbeit leisten

Ich beschäftige mich schon so lange mit dem Thema Gewicht und Körperwahrnehmung. Ich habe sogar meine Doktorarbeit (Ge)wichtige Körper über Repräsentationen von Übergewicht in Film und Serien geschrieben. Ich kenne mich wirklich sehr gut aus mit den Vorstellungen und Vorurteilen, die sowohl mit schlanken als auch mit dicken Körpern assoziiert werden. Ich weiß, dass sie gesellschaftlich bedingt und häufig schlichtweg falsch sind. Ich weiß zum Beispiel, dass ein höherer BMI (Body Mass Index) nicht automatisch bedeutet, dass man ungesund ist. Und trotzdem falle ich immer wieder in alte Schemata zurück.

Die Wahrheit ist: Es ist mir eben nicht egal, was andere über meinen Körper denken. Ich wünschte, es wäre mir egal. Aber das ist es nicht. Ich wünschte, ich würde nicht so viel über meinen Körper nachdenken und darüber, wo er zu dick ist, wo er Narben hat, wo er Makel und Unzulänglichkeiten hat. Er hat mich gerade durch eine enorme Belastung hindurchgetragen und das mit Bravour. Wenn man bedenkt, was Operationen, Chemo und Bestrahlung für Konsequenzen mit sich bringen können, hat sich mein Körper als äußerst resistent und stark erwiesen. Und trotzdem beurteile ich ihn wieder nur nach äußerlichen und gesellschaftlich vorgegebenen Qualitätsmerkmalen. Ich bin eben selbst nicht befreit von Vorurteilen. Ich bin nicht befreit vom Optimierungszwang. Ich wünschte, ich wäre es, aber ich bin es nicht. Und ich glaube, so lange wir als Gesellschaft an Körperidealen festhalten, werde auch ich mich zumindest auf emotionaler Ebene nicht vollends befreien können.

Aber ich kann dabei helfen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich kann aufzeigen, wo und wann gerade Frauen bewusst oder unbewusst auf ihre Körper und ihr Gewicht reduziert werden. Ich kann – wie in diesem Beitrag – teilen, was das mit mir als Frau macht. Und ich kann mit wissenschaftlichen Beweisen erklären, inwiefern bestimmte gewichts- und frauenkörperbezogene Vorurteile schlichtweg falsch und schädlich sind.

Eine Bewegung, die für mehr Diversität in allen Lebenslangen einsteht, ist bereits seit längerem in Gange. Und Körpervielfalt ist ebenfalls Bestandteil dieser Bewegung. Es gibt also Grund zur Hoffnung, dass sich auf gesellschaftlicher Ebene wirklich etwas ändert. Und wenn ich damit dazu beitragen kann, dass wenigstens künftige Frauengenerationen nicht mehr darüber nachdenken müssen, wie sie wohl wahrgenommen werden, wenn sie während einer Chemotherapie (!) Zu- oder Abnehmen, dann darf ich aufrichtig stolz auf mich sein.

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