Die Mädchen aus der letzte Reihe – über das problematische Körperbild der krebskranken Netflix-Serienfigur

Die spanische Netflix-Serie "Die Mädchen aus der letzten Reihe" thematisiert Krankheit, Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe – und präsentiert dabei gleich in mehrerlei Hinsicht ein äußerst problematisches Körperbild.

Inhaltsverzeichnis

»Die Mädchen aus der letzten Reihe«: Spanische Netflix-Serie über Krankheit, Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe

Fünf Frauen stehen in ihren jeweiligen Wohnungen vor dem Spiegel und rasieren sich den Kopf. So beginnt die spanische Netflix-Miniserie Die Mädchen aus der letzten Reihe (im Original: Las de la última fila). Die mittlerweile erwachsenen ehemaligen Schul-Freundinnen begeben sich auf ein langes Urlaubswochenende. Doch die gemeinsame Zeit ist überschattet, denn: Eine von ihnen hat Krebs.

Die Reise der fünf Frauen hat zwei Bedingungen:

  1. Niemand redet über die Erkrankung der Freundin und
  2. Jeden Tag erfüllen alle eine Herausforderung, die eine von ihnen anonym vorgegeben hat.

Auch der Serien-Zuschauer weiß bis zur sechsten und letzten Episode von Die Mädchen aus der letzten Reihe nicht, welche der Frauen krank ist und wer welche Herausforderung an die Gruppe gestellt hat.

Die Serie thematisiert Krankheit, Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe – und präsentiert dabei gleich in mehrerlei Hinsicht ein äußerst problematisches Körperbild.

Spoiler Alert: In diesem Artikel wird das Ende der Serie »Die Mädchen aus der letzten Reihe« aufgedeckt.

„Wir reden nicht über dieses Thema“: Krankheit und Tabu in »Die Mädchen aus der letzten Reihe«

Über die Serie hinweg werden die Freundinnen Leo, Alma, Olga, Carol und Sara immer wieder von anderen Serienfiguren auf ihre kahl rasierten Köpfe angesprochen. Aus Solidarität haben sich alle fünf Frauen ihre Haare abrasiert, obwohl nur eine von ihnen aufgrund der bevorstehenden Chemotherapie ihre Haare verlieren wird. Dass eine von ihnen erkrankt ist, erzählen sie der ein oder anderen Serienfigur. Wer von ihnen die Betroffene ist, geben sie jedoch nicht Preis. Immer wieder betonen sie ihre erste Reise-Regel: Wir reden nicht über dieses Thema. Und auch wenn die Frauen in kleineren Gruppen zu zweit untereinander sprechen, weichen sie dem Thema aus.

Für den Serien-Zuschauer wird dadurch jedoch nicht nur die Erkrankung der Serienfigur, sondern Krebs per se als Tabuthema präsentiert. In meinem Artikel Krankheit und Tabu – Warum die Veröffentlichung von Prinzessin Kates Krebserkrankung richtig und wichtig ist, habe ich erläutert, weshalb die Tabuisierung von potenziell lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs auf mehreren Ebenen problematisch ist:

Zum einen erhalten oder verstärken Tabus soziale Normen und Machtstrukturen und zum anderen lassen sie Raum für Spekulationen und Fehlinformationen offen und schüren (zum Teil auch unbegründete) Ängste. In dieser Dynamik kann der Grundsatz „Darüber reden wir nicht“ bei tabuisierten Krankheiten wie Syphilis dazu führen, dass Betroffene sich unbehaglich fühlen, wenn sie Unterstützung suchen oder Hilfe in Anspruch nehmen möchten und dies eventuell sogar schlichtweg vermeiden.

Indem Die Mädchen aus der letzten Reihe das Verbot über die Krebserkrankung zu reden ins Zentrum der Handlung stellt, schürt die Netflix-Serie zwar in einem klugen Schachzug die Neugierde seiner Zuschauer, welche die Serie bis zum Schluss ansehen, um zu erfahren, welche der fünf Frauen erkrankt ist. Gleichzeitig etabliert sie jedoch auch Krebs und Krankheit als Tabu und hält damit an Normen und Machtstrukturen fest, die nach wie vor in unserer westlichen Gesellschaft vorherrschen und die potenziell lebensbedrohliche Auswirkungen auf Betroffene haben.

 

„Eine von euch hat also Krebs. Wer ist es?“: Über die Wahl der krebserkrankten Serienfigur in »Die Mädchen aus der letzten Reihe«

Die Macher der Netflix-Serie Die Mädchen aus der letzten Reihe haben jedoch noch eine weitere Entscheidung getroffen, die hinsichtlich der Repräsentation von Machtstrukturen und Vorurteilen problematisch ist:

In der sechsten und letzten Serienfolge wird aufgedeckt, welche der fünf Frauen Krebs hat:

Es ist Leo. Und Leo ist dick.

Das Problematische Körperbild der krebserkrankten Serienfigur aus »Die Mädchen aus der letzten Reihe«

Modell zur gewichtsbezogenen Körperbildanalyse

Die Behauptung, dass Leo dick sei, erscheint auf den ersten Blick eine rein subjektive Feststellung zu sein, wenn man bedenkt, dass die Bewertung von Körpern keineswegs universell ist. Selbst der für die Bewertung von Körpern genutzte BMI (Body Mass Index), mit dem Körper als untergewichtig, normalgewichtig, übergewichtig oder stark übergewichtig eingestuft werden, ist nicht so objektiv, wie man allgemein meint. So fallen beispielsweise auch stark muskulöse Menschen aufgrund des Gewichts ihrer Muskelmasse schnell und fälschlicherweise in die Übergewichts-Kategorie. Ganz abgesehen davon lässt sich die Körper-Kategorisierung mittels BMI, bei dem Körpergröße und Körpergewicht ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, bei Film- und Serien-Figuren, deren Körpermaße man in der Regel nicht kennt (es sei denn, die Figur thematisiert dies innerhalb der fiktiven Handlung) aber auch gar nicht anwenden.

Die Behauptung, dass Leo dick ist bzw. als dicke Figur präsentiert wird, lässt sich jedoch mit Hilfe einer gewichtsbezogenen Körperbildanalyse stützen: Bei dieser speziellen, in meiner Doktorarbeit (Ge)wichtige Körper entwickelten Form der Figurenanalyse wird die Film- oder Serienfigur nach folgenden Kriterien untersucht:

  1. Allgemeine äußere Erscheinung und körpernahe Artefakte (v.a. Figurenkleidung)
  2. Körperhaltung und Bewegungsverhalten (v.a. Nähe- und Berührungsverhalten)
  3. Unterschiede zwischen Übergewichtigen und Unter-/Normalgewichtigen
  4. Gewichtsbezogene Kommentare
  5. Ess- und Trinkverhalten
  6. Interaktionen und Charakterisierung von Übergewichtigen (Eigen- und Fremdcharakterisierung)

Medienkompetenz für Körperbilder und Körperwahrnehmung

Erfahre mehr über die Themen Gewichtsdiskriminierung, Körperbilder und Körperwahrnehmung

„Du bist fett und deine Frisur sieht scheiße aus.“: Diskriminierung übergewichtiger Serienfiguren

Analysiert man Leo aus der Netflix-Serie Die Mädchen aus der letzten Reihe unter den  Gesichtspunkten der gewichtsbezogenen Körperbildanalyse, wird deutlich, dass sie im Kontrast zu den anderen vier Frauenfiguren und auch über beispielsweise Eigen- und/oder Fremdkommentare als ‚dicke‘ oder zumindest ‚nicht schlanke‘ Figur verhandelt wird.

Dies wird bereits ab der ersten Serienepisode deutlich: Leos Körper wird den vier schlanken Frauenfiguren Alma, Olga, Carol und Sara auf visueller Ebene als Kontrastfigur gegenübergestellt. Im Urlaub angekommen, besuchen die Freundinnen einen Club, in dem Olga auf der Tanzfläche von einer Frau angeflirtet wird. Als sich Leo in die Unterhaltung einmischt, beginnen sie und die Fremde sich gegenseitig zu beleidigen. Die Fremde will Leo trotzdem auf ein Getränk einladen, woraufhin Leo sagt: „Ich will aber nicht deine zweite Wahl sein.“ „Bist du auch nicht.“, erwidert die Fremde. Du bist mindestens die 13. Ich jage schon die ganze Nacht.“ Als die beiden später betrunken auf der Tanzfläche sind, erklärt die Fremde, sie habe Leos Freundin Olga deshalb angesprochen, weil sie sexy sei und ihr die kurzgeschorenen Haare stehen würden, „während du [Leo] fett bist und deine Frisur scheiße aussieht.“

Stereotype Gewichtsdarstellung: Die übergewichtige Frau als komödiantisches Spektakel

Leo, die ein Shirt mit der Aufschrift My Body is not your business trägt, reagiert auf die Äußerungen der Fremden wenig überrascht, kontert schnell, wirft auch sonst die gesamte Serie über viel mit Schimpfwörtern um sich und entzieht sich emotionalen Situationen meist mit lustigen Sprüchen.

„Large, audacious women are often constructed as comic spectacles, the target of our laughter and the butt of the joke.“ , schreibt die Film- und Kulturwissenschaftlerin Angela Stukator in ihrem Aufsatz ‚It’s Not Over Until the Fat Lady Sings.‘ Comedy, the Carni-valesque, and Body Politics. „Rendering the unruly fat woman as comic spectacle is one common strategy for designating her doubly marginal status – as a woman and as a fat woman – and ridiculing her aberrant body.“

Mit Leos Figurencharakterisierung bedient sich Die Mädchen aus der letzten Reihe also einer verbreiteten Repräsentationsform übergewichtiger Frauen: Der übergewichtigen Frau als komödiantischem Spektakel. Insofern ist Leos Figurendarstellung hinsichtlich der Gewichtsdarstellung wenig innovativ oder subversiv, sondern bestätigt bestehende Normen, Vorurteile und mediale sowie gesellschaftliche Stereotypen.

“They [large women] are rarely featured in film comedies, appearing rather as secondary and exceedingly stereotypical characters: mother/mammy, spinster, cultural other, or female buddy. […] In any case, the fat woman is made into a spectacle for our amusement. While the laughter she evokes may or may not be bound to her wit, a narrative gag, or prank, it invariably pertains to her physical body.” (Angela Stukator)

„Ich hoffe, das Bier ist später noch kalt.“: Die übergewichtige und ungesunde Frau

Aber in Leos Figurencharakterisierung manifestiert sich noch ein weiterer problematischer Körperbildaspekt, denn Leo trinkt Alkohol – und das nicht zu wenig.

Kaum sind die Frauen am Urlaubsort angekommen und steigen aus dem Auto aus, sagt Leo: „Ich brauche dringend ein kaltes Bier.“ Und auch sonst sieht man die Serienfigur in fast allen Szenen mit einem Bier oder einem Cocktail in der Hand. Selbst in der letzten Serienfolge, als sich die fünf Freundinnen kurz vor Leos erster Chemositzung für ein Picknick auf einer Grünfläche vor dem Krankhaus treffen, öffnet sich Leo als erste und einzige der fünf Frauen ein Dosenbier und verabschiedet sich wenig später mit den Worten: „Ich muss jetzt los. Ich hoffe, das Bier ist später noch kalt.“ und suggeriert damit, auch nach ihrer Krebstherapie weitertrinken zu wollen.

Ebenfalls in der letzten Serienepisode imaginiert Leo ein Gespräch mit ihrer Mutter, die in dieser Szene als Leos innere Stimme fungiert und die zu ihr sagt: “Du bist echt fett, Süße. Du hast dich gehen lassen. Hör auf zu trinken, das ist nicht normal. Du musst auf dich achten.“

Leo lebt ungesund, denn sie trinkt durchwegs Alkohol, ist übergewichtig und hat Krebs. Damit stellt Die Mädchen aus der letzten Reihe eine mal mehr und mal weniger direkte Verbindung zwischen den Themen Übergewicht und Gesundheit her. Oder anders gesagt: „Dick sein, bedeutet ungesund sein.“ Lautet die unterschwellige Kernaussage der Serie, die in Leos Figurencharakterisierung zum Vorschein kommt.

Mega-Trend Gesundheit als Freifahrtschein für körperbezogene Diskriminierung

Das Körperbild und die Charakterisierung der Serienfigur Leo aus Die Mädchen aus der letzten Reihe sind als problematisch einzustufen, weil sie stereotype und diskriminierende Repräsentationsformen aufgreifen. Dabei spiegelt die Serie gesellschaftliche Diskurse über die Zusammenhänge von Übergewicht und Gesundheit wider und potenziert dabei Gesundheitsnormen und Vorurteile gegenüber Übergewichtigen.

Das Thema Gesundheit besitzt in der öffentlichen Wahrnehmung einen hohen Stellenwert. Vorgeblich geht es bei allen Diskussionen um das Wohl jedes und jeder Einzelnen. Wenn man das zeitgenössische Gesundheitsregime aber im Kontext gesellschaftlich verpönter Verhaltensweisen betrachtet, wird der Mega-Trend Gesundheit jedoch schnell zum Freifahrtschein für Diskriminierungen.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich das Verständnis von Gesundheit gewandelt hat: In der Gesundheitssoziologie gibt es drei Hauptfaktoren, die die Gesundheit der Menschen beeinflussen: persönliche Faktoren (wie genetische Veranlagungen), Verhaltensfaktoren und Umweltfaktoren. Während man früher annahm, Gesundheit und Krankheit seien einfach Schicksal, wird heutzutage im Gesundheitsdiskurs besonders auf die Verhaltens- und persönlichen Faktoren geachtet. Eine Folge davon ist, dass Menschen für ihre eigene Gesundheit verantwortlich gemacht werden und es wird von jedem Individuum erwartet, dass man sich um die eigene Gesundheit kümmert. Das heutige Verständnis von Gesundheit beinhaltet damit gleichsam die Aufforderung, riskante oder ungesunde Lebensweisen wie beispielsweise Rauchen oder ungesunde Ernährung zu vermeiden. Wer sich nicht an die gängigen Gesundheitsvorstellungen hält, wird möglicherweise ausgegrenzt.

Leos Figurencharakterisierung liest sich in Anbetracht des aktuellen Gesundheits-Imperativs wie eine Warnung, welche die komplexen Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Übergewicht vereinfacht und diskriminierend herunterbricht auf das Credo: Leo ist dick, Leo trinkt zu viel Alkohol, Leo lebt ungesund, Leo hat Krebs – selber schuld.

 

Quellen:

Fazio, Laura: „(Ge)wichtige Körper Subversive Gewichtsdarstellungen in Lena Dunhams Girls und Mindy Kalings The Mindy Project.“ Marburg: Büchner, 2021.

Raacke, Georg: „Wer früher stirbt, ist selbst schuld!“ – Ein kritischer Blick auf das aktuelle Gesundheitsregime, HiBiFo, 4-2014, S. 69-80. URL: https://elibrary.utb.de/doi/pdf/10.3224/hibifo.v3i4.17334 (Zuletzt aufgerufen: 13.06.2024)

Stukator, Angela: „‚It’s Not Over Until the Fat Lady Sings‘. Comedy, the Carnivalesque, and Body Politics“ In: Bodies Out of Bounds, hg. von Jana Evans Braziel und Kathleen LeBesco, Berkeley: University of California Press, 2001, 197–213.

Bilder: 

„Die Mädchen aus der letzten Reihe“ copyright @netflix

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