Krankheitsrate in Deutschland senken – Wie wär’s mit sozialer Nachhaltigkeit anstatt Treppen-Challenges?

Die Krankheitsrate in Deutschland ist auf einem neuen Höchststand. Die höheren Krankschreibungen gehen vor allem auf psychische Erkrankungen zurück – kein Wunder, wenn konstante Unsicherheit und Kontrollverlust chronischen Stress erzeugen. Anstatt also Gesundheits-Workshops und Fitness-Challenges zu organisieren, sollten Unternehmen sozial nachhaltige Arbeitsumfelder schaffen und erhalten.

Inhaltsverzeichnis

Krankheitsrate in Deutschland 2023 auf dem Höchststand

Diese Woche sind in meinen LinkedIn-Feed gleich mehrere Posts mit Bezug zur Krankheitsrate in Deutschland hineingeflattert.

„Im vergangenen Jahr haben sich Arbeitnehmer in Deutschland so häufig krankgemeldet wie noch nie.“, heißt es in einem dort gern zitierten Beitrag der Tagesschau vom Januar 2024, der sich auf Studienergebnisse des Statistischen Bundesamts beruft. „Lag die Zahl der Krankmeldungen pro Jahr 2010 im Schnitt bei 9,4, waren es 2023 19,4 Tage. Höchststand.“

Dass das nicht gut ist, haben die Unternehmen auch zu spüren bekommen, denn: fehlende Mitarbeiter bedeuten fehlende Leistung bedeuten fehlendes Geld. Ganz konkret: fehlende 26 Milliarden Euro. Um so viel ist die Deutsche Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr nämlich aufgrund der hohen Krankheitsrate in Deutschland geschrumpft. Und das ist für die Unternehmen natürlich ganz und gar nicht lustig.

Krankheitsrate in Deutschland 2023 Tagesschau Statistisches Bundesamt
2023 haben sich Arbeitnehmer in Deutschland so häufig krankgemeldet wie noch nie. (Bildnachweis: tagesschau.de. Inhaltsquelle: Statistisches Bundesamt)

Krankheitsrate in Deutschland senken – sind Treppen-Challenges und Gesundheitsworkshops wirklich die Lösung?

Was ich persönlich dagegen sehr amüsant finde, sind die Lösungen, die von einigen Personen auf LinkedIn angeboten werden, um die hohe Krankheitsrate in Deutschland zu senken: Man könne doch Workshops ausrichten, in denen die Mitarbeiter auf spielerische Art und Weise über Gesundheitsthemen aufgeklärt werden oder aber Treppen-Challenges veranstalten, damit sich die Mitarbeitenden beim kompetitiven Treppen-Steigen im Büro fit und gesund halten. Das Ganze ließe sich dann gleichzeitig auch als Teambuilding-Maßnahme verbuchen. Toll, nicht wahr?

Dabei müssten die Arbeitgeber im Tagesschau-Feed nur ein paar wenige Monate zurückscrollen und sich den themenverwandten Beitrag vom 1.11.2023 durchlesen, um den Gründen für die hohe Krankheitsrate in Deutschland auf die Spur zu kommen, bevor sie Problemlösungsvorschläge präsentieren.

Warum ist die Krankheitsrate in Deutschland so hoch?

Zunehmend verunsichernde Lebenssituation

„Keine Sommergrippe-Welle in Deutschland – und dennoch ist der Krankenstand angestiegen.“, heißt es im Tagesschau-Beitrag Krankmeldungen auch im Sommer angestiegen vom November 2023. Sowohl die DAK als auch die AOK kommen in ihren Reports dabei zu ähnlichen Ergebnissen: Die höheren Krankschreibungen gehen vor allem auf zwei Befunde bei den Ärzten zurück: Psychische Erkrankungen und Muskel-Skelett-Probleme (Rücken), wobei viele Krankschreibungen wegen Rückenproblemen Experten zufolge auch mit psychischen Belastungen in Verbindung stehen. Man könnte also auch sagen: Die höheren Krankschreibungen gehen vor allem auf psychische Erkrankungen zurück – Punkt.

Und ist das denn verwunderlich? Ich denke nicht. DAK-Vorstandschef Storm nennt die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und die vielen Krisen der Welt als die zwei großen, die Psyche der deutschen Arbeitnehmer belastenden Faktoren. Damit hat er sicher nicht unrecht. Jedoch sind auch diese beiden Faktoren nur Symptome eines größeren Problems:

In meinem Blogbeitrag Wenn der Körper aufschreit, habe ich aufgezeigt, inwiefern unser soziales und wirtschaftliches Umfeld systembedingt chronischen Stress erzeugt und wie dieser Stress unsere psychische und physische Gesundheit belastet. Wir leben in einer Welt und Zeit, die von enormer Unsicherheit, fehlenden Informationen und Kontrollverlust geprägt sind – und diese drei Faktoren sind laut Forschungsliteratur die größten Auslöser und Antreiber von chronischem Stress. Aus dieser Perspektive betrachtet sind auch die von DAK-Vorstandschef Storm genannten globalen Krisen im Grunde nur Beispiele von einer unsere Lebenssituation bestimmenden Unsicherheit.

Die hohe Krankheitsrate in Deutschland geht vor allem auf psychische Erkrankungen zurück. Und das ist wenig verwunderlich, wenn Unsicherheit und Kontrollverlust unsere Lebensrealität bestimmen.

Unsicherheit, Kontrollverlust und weitere Stressfaktoren der Arbeitswelt

Wir müssen aber auch nicht auf die globale Ebene springen, um zu sehen, dass unsere aktuellen Lebens- und Arbeitsweisen Unsicherheit und Kontrollverlust geradezu beflügeln und damit notgedrungen zu chronischem Stress und einer hohen Krankheitsrate in Deutschland führen.

Von links und rechts höre ich von Familie, Freunden und Bekannten Ähnliches: Die Wirtschaftslage ist spürbar unsicher. Der Arbeitsmarkt ebenso. Fast immer liegen zu viele Aufgaben auf dem Tisch, die für den Arbeitgeber scheinbar alle gleich wichtig sind. Das an sich ist bereits nervig und stressig, wäre aber wahrscheinlich aushaltbar, wenn da nicht noch nebenbei ebenso viele Change- oder Umstrukturierungsprojekte laufen würden, die scheinbar auch alle gleich wichtig und dringlich sind: weiter digitalisieren, selbstorganisiert arbeiten, KI nutzen, Teams zusammenwerfen und dann wieder auseinander dividieren, wachsen wachsen wachsen, und und und. Selbstverständlich soll man als guter Mitarbeitender dabei stets flexibel und resilient bleiben – ist doch eh klar! Und weil alle in derselben Spirale feststecken, bleibt die Menschlichkeit immer weiter auf der Strecke.

Liebe Arbeitgeber, eure Mitarbeiter sind chronisch gestresst

Was ich damit sagen möchte, liebe Arbeitgeber: Eure Mitarbeiter sind gestresst. Und das seit langem. Deswegen werden sie krank – physisch wie psychisch. Und daran werden ein „spaßiger“ Aufklärungs-Workshop und eine „Teambuilding“-Treppen-Challenge nichts ändern. Im schlimmsten Fall bürdet ihr euren Mitarbeitern dadurch sogar einen weiteren Stressfaktor auf, denn die Arbeit bleibt während eurer tollen Gesundheitsmaßnahmen nicht einfach nur liegen, sondern häuft sich weiter an.

Liebe Arbeitgeber: Eure Mitarbeiter sind gestresst. Und das seit langem. Deswegen werden sie krank – physisch wie psychisch. Und deshalb werden ein „spaßiger“ Aufklärungs-Workshop und eine „Teambuilding“-Treppen-Challenge auch rein gar nichts an der hohen Krankheitsrate in Deutschland ändern.

Krankheitsrate in Deutschland und Mitarbeiterzufriedenheit

Spannen wir von hier aus den Bogen noch etwas weiter und sehen uns den Gallup Engagement Index Deutschland 2023 an. Was wir dort sehen:

  • Nur 14 Prozent der Arbeitnehmenden sind emotional hoch gebunden
  • 67 Prozent der Beschäftigten sind gering gebunden und machen Dienst nach Vorschrift
  • 45 Prozent der Beschäftigten sind aktiv auf Jobsuche oder offen für Neues
  • Nur 22 Prozent sind uneingeschränkt mit der direkt vorgesetzten Person zufrieden

Auch die Mitarbeiterzufriedenheit in Deutschland war 2023 somit denkbar schlecht.

Damit will ich nicht unterstellen, dass sich Mitarbeitende einfach unbegründet krankmelden, weil sie nicht zur Arbeit gehen wollen. Ich sehe die Zusammenhänge vielmehr genau andersherum: Wenn Arbeitnehmer sich in einer Arbeitswelt wiederfinden, die sie chronischem Stress aussetzt und in dem sie krank werden, sinkt logischerweise auch die Mitarbeiterzufriedenheit.

Die Arbeitswelt wird dann immer mehr zum Äquivalent einer toxischen Beziehung, in der ein Partner (das Unternehmen) vorgibt, am Wohlbefinden seines Gegenübers (dem Mitarbeiter) interessiert zu sein, ihm hin und wieder etwas schenkt (Stichwort: New Work Benefits), aber konsequent das vorenthält, was der andere wirklich braucht – nämlich aufrichtiges Interesse, Empathie, Menschlichkeit.

Krankheitsrate in Deutschland senken – wie wär’s mit mehr Empathie und echter Beziehungsarbeit?

Entfremdung im 21. Jahrhundert

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach Karl Marx über den Verlust von Verbindungen und das damit einhergehende Gefühl der Isolation und prägte dadurch maßgeblich den Begriff der Entfremdung.

Laut Marx gibt es vier verschiedene Entfremdungen:

  1. Entfremdung von der Natur
  2. Entfremdung von anderen
  3. Entfremdung von der Arbeit
  4. Entfremdung von der eigenen Identität

Diese Entfremdungskategorien haben bis heute Gültigkeit und spiegeln sich auch symptomatisch in der hohen Krankheitsrate in Deutschland wider:

  • Es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass wir von unserer Natur entfremdet sind, wenn wir unsere eigene Umwelt zerstören.
  • Die Entfremdung von anderen zeigt sich an dem immer stärker fehlenden zwischenmenschlichen Kontakt, der fehlenden Intimität, dem fehlenden Vertrauen in andere – die Corona-Pandemie aber auch die Digitalisierung haben dies weiter verstärkt.
  • Unsere fortwährende Entfremdung von der Arbeit finden wir schwarz auf weiß in den Statistiken zur oben genannten Mitarbeiterzufriedenheit von Arbeitnehmern in Deutschland wieder. Wenn wir Menschen als grundsätzlich produktive Lebewesen Arbeiten nachgehen, die nicht widerspiegeln, wer wir sind und bei der unsere menschlichen Bedürfnisse wahrgenommen werden, distanzieren wir uns emotional und lenken uns mit Dingen wie Besitz, Status oder Aussehen ab – und unsere Kultur ist sehr gut darin, uns zu diesem Zwecke immer neue Produkte anzubieten.
  • Und zu guter Letzt sind wir von uns selbst entfremdet, nehmen unsere eigenen Bedürfnisse nur noch schlecht wahr und werden meist erst ausgebremst, wenn unsere Körper oder unsere Psyche nicht mehr mitspielen.

Sozial Nachhaltige Arbeitsumfelder schaffen und erhalten

Viele arbeiten bereits auf Hochtouren daran, unsere globale Entfremdung von der Natur zu bekämpfen. Wie erfolgreich das noch sein wird, bleibt abzuwarten. Aber wie steht es um die drei anderen Entfremdungen, bei denen es im Kern um Beziehungen zu sich und anderen geht? Ich würde behaupten: Nicht sonderlich gut.

Wir dürfen Nachhaltigkeit nicht nur mit Klimamaßnahmen in Verbindung bringen, sondern müssen uns auch in Sozialer Nachhaltigkeit üben. Wir müssen versuchen, zu unserem Wesenskern zurückzufinden in unserer Lebensweise, aber auch in unserer Arbeits- und Wirtschaftsweise. Und dieser Wesenskern ist, anders als gemeinhin angenommen, nicht von einem bis hin zum Egozentrismus verunstalteten Individualismus und einem Wettbewerbsbestreben geprägt, sondern von Empathie und dem Bedürfnis nach echten, Sicherheit spendenden Beziehungen. 

Sozial nachhaltige Arbeitsumfelder zu schaffen und zu pflegen bedeutet dann eben nicht, den hundertsten New Work Benefit einzuführen, sondern eine gute Beziehung zu jedem einzelnen Mitarbeiter zu pflegen, wirklich zuzuhören, wirklich auf den anderen einzugehen, für den Einzelnen in seiner Unterschiedlichkeit passende Lösungen und Kompromisse zu finden; kurzum: es bedeutet, sich zuallererst um den Menschen und erst dann dessen Rolle als Arbeitskraft zu kümmern. Denn erst, wenn wir es schaffen, wieder aufrichtige Empathie zu fühlen und zu leben, werden wir uns auch in der Arbeit wieder sicherer und wohler fühlen und infolge dessen seltener erkranken.

Ein Beispiel für sozial nachhaltiges Miteinander im Arbeitsumfeld

Vor kurzem habe ich einen guten Freund von mir an dessen Geburtstag angerufen. Nach ein paar Minuten unterbrach er unser Telefonat: „Bitte entschuldige, da kommt gerade ein Anruf rein, den ich unbedingt annehmen möchte. Kann ich dich gleich zurückrufen?“

Als sich mein Freund etwas später wieder bei mir meldete, fragte ich ihn nach dem Anrufer. Es war sein ehemaliger Vorgesetzter gewesen, der seit mittlerweile fünf Jahren in Rente ist. Trotzdem ruft er meinen Freund, wie vor seiner Rente auch, jedes Jahr pünktlich an dessen Geburtstag an, um ihm zu gratulieren. Warum er das macht? Einfach deshalb, weil er meinen Freund als Mitarbeiter sehr geschätzt hat und sich vergewissern möchte, dass es ihm gut geht. 

So simpel kann aufrichtige Wertschätzung im Arbeitsumfeld aussehen. Bitte mehr davon!

Quellen:

„Drückte Krankenstand Deutschland in Rezession?“, tagesschau.de, Stand: 26.01.2024 14:01 Uhr  (URL:  https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/rekord-krankenstand-rezession-100.html)

„Krankmeldungen auch im Sommer angestiegen“, tagesschau.de, Stand: 01.11.2023 13:22 Uhr (URL: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/krankenstand-psyche-dak-100.html)

„Studie: Fast die Hälfte aller Deutschen will den Job wechseln“, tagesschau.de, Stand: 14.03.2024 06:15 Uhr (URL: https://www.tagesschau.de/inland/regional/rheinlandpfalz/swr-studie-fast-die-haelfte-aller-deutschen-will-den-job-wechseln-100.html)

Bilder: 

Krankheitsrate Deutschland Headerbild copyright @pixabay (Engin Akyurt)

Krankheitsrate Deutschland Statistik, entnommen: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/rekord-krankenstand-rezession-100.html 

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Chronischer Stress opyright @pixabay (Engin Akyurt)

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