Wenn der Körper aufschreit

Unser soziales und wirtschaftliches Umfeld erzeugt systembedingt chronischen Stress, der unsere psychische und physische Gesundheit beeinträchtigt. Unsere Körper schreien in diesem System auf und reagieren mit Erkrankungen auf anormale Lebensumstände.

Inhaltsverzeichnis

Wie konnte ich physisch und psychisch so krank werden?

Gesundheitlich kam bei im letzten Jahr einiges zusammen.

Es fing an mit einem unregelmäßigen Klopfen im Ohr. Dann wurde mir Bluthochdruck diagnostiziert. Im Februar hatte ich zwei Mal über mehrere Minuten hinweg von einer Depression ausgelöste Sehausfälle auf einem Auge. Erst hatte ich viel zugenommen und war ständig aufgebläht, dann nahm ich plötzlich unkontrolliert und rasend schnell ab. Im Sommer dann der Supergau: Brustkrebs mit 32. Und wenige Wochen darauf fand man Zysten an beiden Eierstöcken, die 10 Monate zuvor bei der letzten Vorsorge noch nicht da gewesen waren. Eine der Zysten war eine herkömmliche Gewebezyste, die andere eine Ausgeburt meiner unentdeckten Endometriose, die noch weitere Organe wie zum Beispiel meine Blase verklebt hatte.

Und langsam begann ich mich zu fragen, wie ich mit Anfang 30 psychisch und physisch so krank werden konnte.

Berufliche und persönliche Herausforderungen als Krankmacher

2023 war nicht nur gesundheitlich ein turbulentes Jahr. Der Jahreswechsel markierte das endgültige Aus einer jahrelangen On-Off-Beziehung. Zudem hatte ich mich beruflich in eine Sackgasse manövriert und arbeitete in einem Unternehmen, in dem ich mich zunehmend unwohl und emotional gestresst fühlte. Wenigstens das Gehalt und der Titel stimmten, weshalb ich über die vielen Probleme hinwegsah, bis auch Geld, Status und das tägliche Glas Wein das ungute Gefühl in meiner Brust nicht mehr überdecken konnten.

Wendepunkt

Nach einem besonders belastenden Teams-Meeting im Frühjahr knickte ich endgültig ein. Ich loggte mich im Homeoffice aus der Besprechung aus und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam und für den ich mich als 32-jährige Frau genierte, war: „Ich will meine Mama sehen.“

Also rief ich sie an. Sie war gerade draußen unterwegs, klang abgehetzt und irgendwie neben der Spur. Als ich das zweite Mal nachfragte, was los sei, erzählte sie mir, dass ein Knoten in ihrer Brust gefunden worden war. Ich hatte sie genau in dem Moment angerufen, als sie gerade aus der Radiologie herausgegangen war. (Wenige Monate später sollten wir ein Déjà-vu mit verkehrten Rollen erleben, als mich meine Mutter just in dem Moment anrief, als ich aus meiner Frauenarztpraxis mit einem Überweisungsschein zur Radiologie für meine eigene Brustkrebsuntersuchung in der Hand entlassen worden war.)

Das Telefonat mit meiner Mutter brachte das Fass zum Überlaufen. Ich weinte und dachte: „Meine Mutter ist schwer krank. Und ich mache mir wegen so etwas Unwichtigem wie einem Job das Leben zur Hölle.“

Scham und Schuld

Kurz darauf fand ich eine neue Arbeitsstelle und kündigte meinen Job – jedoch nicht ohne schlechtes Gewissen und das Gefühl aufgegeben und versagt zu haben. Um meine Kündigung „wieder gut zu machen“, arbeitete ich in den nächsten Wochen besonders fleißig, weil ich einen möglichst sauberen Schreibtisch hinterlassen wollte und lief zum krönenden Abschluss mit meinen Kollegen beim Spendenlauf B2Run mit – einer Social Day Initiative die, wie könnte es auch anders sein, von mir angestoßen und organisiert worden war.
Zum Dank wurde ich von der Geschäftsführung ohne ein Abschiedswort gehen gelassen.

Weitere Rückschläge

Noch am selben Tag und auch am Tag nach dem Firmenlauf erlebte ich auch auf persönlichen Ebene zwei Rückschläge. Erst erfuhr ich, dass mein Expartner, an dem ich emotional noch immer hing, eine neue Beziehung führte und wurde am Tag darauf von dem Mann, den ich vor kurzem zu daten begonnen hatte, zurückgewiesen.

„Es ist alles egal“, dachte ich mit Blick auf den neuen Job, den ich nicht einmal eine Woche später anfangen würde und der einen neuen Lebensabschnitt versprach.

Ausgebrannt und krank

Dann die nächste Ernüchterung: Die neue Firma entpuppte sich schnell als Abziehbild meines vorherigen Arbeitgebers. Hinzu kam, dass ich einen immer stärkeren inneren Widerstand spürte – gegen alles. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich fühlte mich ausgebrannt und ergriff nach nur zwei Wochen im Unternehmen die Flucht.

Und dann, drei Wochen später, als ich bereits mitten in neuen Bewerbungen und Verhandlungen steckte, fand ich den Knoten in meiner Brust.

Bluthochdruck, Depression, Endometriose und Brustkrebs - diese Diagnosen erhielt ich alle innerhalb nur eines Jahres.

Der Körper als Warnsystem

Stress in der Arbeit. Stress in zwischenmenschlichen Beziehungen. Das ständige Gefühl mit allem und in allem allein zu sein. Zurückweisungen und Enttäuschungen in allen Lebenslagen. Das Gefühl nicht gut genug zu sein. Für nichts. Das Gefühl ständig etwas leisten zu müssen, klare Ziele unerbittlich mit Arbeit, Fleiß, Blut und Schweiß verfolgen zu müssen.

Wie sollte man in dieser Situation auch gesund bleiben?

Mein Körper hatte mir schon länger klare Warnsignale gesendet, die ich jedoch vehement ignoriert und weggeschoben hatte, bis letzten Endes mit der Krebsdiagnose die Vollbremsung kam.

Eine krankheitsfördernde Gesellschaft

Erkrankungen als normale Reaktionen auf anormale Umstände

„Es kann doch nicht normal sein, in meinem Alter so schnell so krank zu werden.“ Dieser Gedanke beschäftigte mich lange.

Da meine Mutter nur 3 Monate vor mir ihre Brustkrebsdiagnose erhalten hatte, würde man vielleicht meinen, es gäbe eine genetische Veranlagung in unserer Familie, zum Beispiel eine BRCA-Genmutation wie bei Angelina Jolie. Eine solche familiäre Veranlagung hätte zwar nicht für alle Erkrankungen, aber zumindest für meine junge Krebserkrankung eine Erklärung geben können. Tatsächlich habe ich mich aber genetisch untersuchen lassen. Das Ergebnis: Keine der bekannten Genmutationen liegt bei mir vor. Selbst die Ärztin vom genetischen Zentrum war etwas ratlos, als sie mir am Telefon sagte „Es muss wohl einfach ein unglücklicher Zufall sein.“

Das glaube ich allerdings nicht. Ich denke das nicht, dass so viele Erkrankungen in so kurzer Zeit unglückliche Zufälle sein können. Ich denke, sie sind die Symptome meiner chronischen Ängste und Sorgen, die mich im Grunde schon seit der Abgabe meiner Promotion begleiten und sich letztes Jahr in den beruflichen und persönlichen Rückschlägen zugespitzt haben. Und ich denke auch, dass ich mit diesen krankmachenden Ängsten nicht alleine bin, denn sie resultierend aus einem gesundheitsschädigenden Umfeld – und damit meine ich nicht Giftstoffe in der Luft und in den uns umgebenden Gegenständen, sondern in erster Linie die Strukturen und vermeintlich „normalen“ Umgangsformen in unserer immer stärker von Individualismus, Egozentrismus, Selbstoptimierungszwang und Produktivitätsdruck geprägten Gesellschaft.

Chronischer Stress und Isolation als gesellschaftliche Krankmacher

Jemand, der die komplexe Verbindung zwischen Individuum, Gesellschaft, Umwelt und Krankheit sehr gut auf den Punkt bringt, ist Gabor Maté. Maté ist ein kanadischer Mediziner mit ungarischen Wurzeln, der unter anderem zu Themen wie Sucht und ADHS geforscht hat und ein exzellenter Speaker ist, der seine wissenschaftlich fundierten Überlegungen auf der Bühne teilt.
In seinem aktuellen Buch „The Myth of Normal“ zeigt Mate auf, wie unsere von Trauma, Stress und Alltagsdruck geprägte westliche Gesellschaft uns krank macht und inwiefern die Medizin häufig nur auf die Symptome dieser Erkrankungen reagieren kann, weil sie den Körper losgelöst vom Geit und das Individuum losgelöst von seinem Umfeld betrachtet.

Unter anderem vertritt Maté die These, dass die Kombination aus chronischem Stress und Isolation das Risiko für Erkrankungen erhöht:
Es ist erwiesen, dass Stress, unabhängig von seiner Ursache, unser Nervensystem mürbe macht, den Hormonapparat durcheinander bringt, das Immunsystem beeinflusst, Entzündungen fördert und insgesamt das körperliche und geistige Wohlbefinden beeinträchtigt. Unsicherheit, Konflikte, fehlende Kontrolle, mangelnde Information zählen in diesem Kontext mit zu den größten untersuchten Stressfaktoren – und diese Stressfaktoren wiederum sind kennzeichnend für unsere kapitalistisch geprägte, westliche Gesellschaft.

Der Kapitalismus produziert chronische Stressfaktoren und chronischer Stress lässt uns krank werden. Wir sorgen also systembedingt dafür, dass unsere Gesundheit leidet.

Man nehme dann noch einen auf Individualismus pochenden Neoliberalismus hinzu, um dafür zu sorgen, dass sich auch ja jeder als seines eigenen Glückes Schmied (und damit eben im Umkehrschluss eben auch als seines eigenen Glückes Untergang) sieht, um die Gestressten auch noch für ihren Stress verantwortlich zu machen und Ta da: Physische und psychische Erkrankungen schießen wie Pilze aus dem Boden – am liebsten in der Kombination.

„Wir sorgen systembedingt dafür, dass wir unter chronischem Stress leiden. Isolation, Unsicherheit, Konflikte, fehlende Kontrolle und mangelnde Information sind erwiesenermaßen die größten wissenschaftlich untersuchten Stressfaktoren – und diese Stressfaktoren wiederum sind kennzeichnend für unsere neoliberal-kapitalistisch geprägte, westliche Gesellschaft.“

Wenn der Körper aufschreit

Mein Körper hat nicht versagt. Im Gegenteil: Mein Körper hat mich beständig darauf hingewiesen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Er hat aufgeschrien und „Halt, stopp!“ gerufen, weil ich das niemals selbst getan hätte und blind weiter in mein eigenes Unglück hineingelaufen wäre.

Seit ich meine Überlegungen zum Ursprung meiner Erkrankungen mit meinem Umfeld zu teilen begonnen habe, habe ich viel Zustimmung bekommen. Immer mehr Menschen kamen auf mich zu und erzählten mir von ihren eigenen stressverursachten Erkrankungen.

  • Eine erzählte mir von einer Fehlgeburt, die sie während der Pandemie und noch dazu an Weihnachten erlitten hat, welche Ängste sie seither auch bei der nächsten Risiko-Schwangerschaft verfolgt haben und wie sie über zwei Jahre hinweg jeden Monat wegen immer neuen Erkrankungen ins Krankenhaus musste.
  • Eine andere erzählte mir von ihrem tyrannischen neuen Vorgesetzten und wie sie wegen ihm und nach Jahren an einem Arbeitsplatz, den sie immer geliebt hatte, schweren Herzens ihre Kündigung einreichen musste – nicht ohne davor ein Jahr lang Widerstand zu leisten und damit ein immer wieder aufflammendes Geschwulst am Handgelenk zu befeuern.
  • Der nächste berichtete mir, wie er endlich beschloss, einen Arzt aufzusuchen, nachdem er seine ganze Mittagspause damit verbracht hatte, hilflos im Supermarkt vor dem Kühlregal zu stehen, weil er so ausgebrannt war, dass er einfach keine Entscheidungen mehr treffen konnte – nicht einmal eine vermeintlich einfache wie die für das eigene Mittagessen.
  • Und wieder eine andere erzählte mir von Schweißausbrüchen, Übelkeit und anderen Reizdarmsymptomen, unter denen sie schubweise immer wieder Tage- und Wochenlang litt und die schlagartig verschwanden, wenn sie es schaffte, einem Meeting mit ihrem Vorgesetzten zu entgehen.

Ich könnte diese Liste noch fortsetzen. Für mich ist offensichtlich: Mein Körper ist nicht der Einzige, der aufschreit und unter den zunehmend problematischen Umfeld leidet.

Wege aus der Misere

Individuelle Lösung vs. Gemeinschaftslösung

Mit dem Wissen über die Zusammenhänge zwischen Umfeld und Krankheit möchte man jemandem, der akut in einer chronisch stressigen, isolierenden Situation feststeckt, einfach dazu raten, sich schnell ein neues Umfeld zu suchen. Und natürlich kann dies ein schneller Weg aus der Misere sein. Aber gerade weil stressfördernde Faktoren wie Unsicherheit, Konflikte, fehlende Kontrolle, mangelnde Information und Isolation systemisch vom neoliberalen Kapitalismus befeuert werden, wird man viele der krankmachenden Strukturen in verschiedenen Kontexten immer wieder vorfinden. Ich habe das am eigenen Leib erfahren: Als ich es endlich geschafft hatte, meinen Job zu kündigen, fand ich im nächsten Unternehmen viele der Strukturen und Umgangsformen wieder, die mich zuvor bereits krank gemacht hatten.

Es ist wichtig, die eigene Handlungsmacht im Blick zu haben und sich nicht als Opfer der Strukturen zu sehen. Aber, wie ich bereits in meinem Blogartikel Resilienz als Gemeinschaftslösung betont habe: Die Lösung strukturell und gesellschaftlich bedingter Probleme einzig und allein beim Individuum zu suchen, bringt uns langfristig nicht weiter.

„If we could begin to see much illness itself not as a cruel twist of fate or some nefarious mystery but rather as an expected and therefore normal consequence of abnormal, unnatural circumstances, it would have revolutionary implications for how we approach everything health related.”
(Gabor Maté)

Gemeinschaftslösungen im Arbeitskontext

Gerade im Arbeitskontext sehe ich aktuell aber auch Phänomene, die Grund zur Hoffnung auf Änderungen spenden.

Zum einen ist die jüngere Generation deutlich besser darin, ungesunde Arbeitsumfelder schnell wieder zu verlassen. Das erhöht den Druck auf Seiten der Arbeitgeber, an der eigenen Unternehmenskultur zu arbeiten, um die Fluktuation einzudämmen.

Zum anderen steigen auch die Krankheitstage in vielen Unternehmen. Diese Fehltage stellen Zeit- und damit Geldverluste für Arbeitgeber dar und liefern so einen Ansporn für Arbeitgeber, sich mit der Gesundheit in ihrem Unternehmen auseinander zu setzen – und das im besten Fall nicht einfach in Form von Benefits wie Obstkörben und einer Fitnessstudiomitgliedschaft. Es geht darum, chronische Stressfaktoren zu eliminieren:

  • Wo werden meine Mitarbeiter isoliert?
  • Wo gibt es im Unternehmen Konflikte?
  • Wo werden meine Mitarbeiter zu wenig informiert?
  • Wann und wo leiden sie unter Unsicherheit?
  • Wo wird ihnen die Möglichkeit zur eigenen Kontrolle genommen?

Wie so oft im Leben gilt auch hier: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Sobald Arbeitgeber anerkennen, dass ihre hohe Mitarbeiterfluktuation und die steigenden Krankheitstage Warnsignale für systemische und potenziell krankheitsfördernde Unternehmensfaktoren darstellen, lässt sich mit der Einführung nachhaltiger Arbeitsbedingungen ansetzen.

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