Warum werden Mehrgewichtige eigentlich diskriminiert?

Der Ruf nach Vielfalt und Inklusion wird innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt immer lauter. Aber eine Art der Diskriminierung ist nach wie vor weit verbreitet: Die Diskriminierung von Übergewichtigen bzw. Mehrgewichtigen (sog. Fat shaming). Aber warum werden Menschen überhaupt aufgrund ihres Gewichts diskriminiert? Der Artikel liefert drei wissenschaftlich-philosophische Ansätze zur Beantwortung dieser Frage.

Inhaltsverzeichnis

Gewichtsdiskriminierung als letzte gesellschaftlich anerkannte Form der Diskriminierung

„Mehr Vielfalt! … aber bitte keine Übergewichtigen“

Spätestens seit die sogenannte Gen Z, sprich die Generation, deren Vertreter in den späten 1990er Jahren oder Anfang der 2000er Jahre geboren wurde, den Arbeitsmarkt betreten hat, wird Diversity immer häufiger als zentraler Wert vieler Unternehmen aufgeführt. Dies liegt zum Teil daran, dass die Gen Z Vielfalt und Inklusion als selbstverständlich betrachtet und von ihren Arbeitgebern Diversity-Förderung erwartet. Zum anderen haben aber auch viele Unternehmen erkannt, dass eine Vielfalt in der Belegschaft eine größere Bandbreite an Perspektiven und Ideen, eine bessere Anpassungsfähigkeit an verschiedene Kundengruppen und Märkte, eine höhere Innovationskraft sowie eine bessere Mitarbeiterbindung und -zufriedenheit mit sich bringt.

Infolgedessen haben viele Unternehmen begonnen, Diversity und Inklusion als strategischen Schwerpunkt zu betrachten und entsprechende Programme und Initiativen einzuführen. Dies kann die Implementierung von Diversity-Schulungen, die Einführung von Richtlinien zur Chancengleichheit, die Förderung von Vielfalt in der Rekrutierung und Beförderung sowie die Schaffung einer inklusiven Unternehmenskultur umfassen. Und auch außerhalb der Arbeitswelt wird der Ruf nach mehr Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion immer lauter. Diskriminierungen aufgrund von ethnischer oder kultureller Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion, Behinderung u.v.m. sind dagegen tabu.

Und dennoch scheint es eine Art der Diskriminierung zu geben, die nach wie vor weit verbreitet ist und als die wohl letzte anerkannte Form der Diskriminierung gilt: Die Diskriminierung von Übergewichtigen bzw. Mehrgewichtigen – das sogenannte fat shaming. 

Wie sich diese Form der Diskriminierung zum Beispiel im beruflichen Kontext äußert, erfährst du in meinem Beitrag über Gewichtsdiskriminierung am Arbeitsplatz.

Aber: Warum werden Mehrgewichtige eigentlich diskriminiert? Woher kommt diese gesellschaftlich verbreitete Ablehnung von Mehrgewichtigen?

Gewichtsdiskriminierung (sog. fat shaming) gilt als die letzte anerkannte Form der Diskriminierung

Körpernormen und Gewichtsdiskriminierung in westlich-kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaften

der Körper als Ausdrucksmittel der sozialen Positionierung

Um die Frage zu beantworten, weshalb Mehrgewichtige diskriminiert werden, muss man zunächst einmal verstehen, dass Körper nicht neutral, sondern mit symbolischer Bedeutung aufgeladen sind. Auch wenn sich nicht alle Menschen ständig mit dem eigenen Körper und der eigenen Schönheit beschäftigen, so scheint doch fast niemandem sein Äußeres vollkommen egal zu sein. Grund dafür ist der Druck seitens der Gesellschaft sich bestehenden (Körper-)Normen anzupassen. Menschen, die gesellschaftlich ‚mithalten‘ wollen, können sich dem Schönheitsideal kaum völlig entziehen, denn der Körper gilt als Ausdrucksmittel der sozialen Positionierung – also der Platzierung eines Menschen in der Gesellschaft.  Wer schlank, jugendlich, fit und authentisch ist und damit die vier Kriterien des aktuellen Schönheitsideals erfüllt, wird als intelligenter, erfolgreicher, zufriedener, sympathischer, kreativer und fleißiger eingestuft und hat damit sowohl bei potentiellen Sexualpartnern als auch auf dem Arbeitsmarkt verbesserte Chancen. 

Als Statuskategorie ist Schönheit und Schlankheit in diesem Sinne mit Macht verbunden und verkörpert ökonomisches und kulturelles Kapital.

Die symbolische Bedeutung von Mehrgewicht

Wer dagegen mehr- oder übergewichtig ist und daher den Schönheitsnormen nicht entspricht, ist klar im Nachteil. Und die symbolischen Bedeutungen, mit der übergewichte und fettleibige Körper in zeitgenössischen westlichen Gesellschaften aufgeladen sind, sind stark negativ konnotiert. „Fat equals reckless excess, prodigality, indulgence, lack of restraint, violation of order and space, transgression of boundary“  und „fat is seen as repulsive, funny, ugly, unclean, obscene, and above all as something to lose“ , heißt es in Bodies Out of Bounds, einer interdisziplinären Untersuchung zur diskursiven Konstruktion und Wahrnehmung von Korpulenz. Die Herausgeberinnen und amerikanischen Kommunikationswissenschaftlerinnen Jana Evans Braziel und Kathleen Le Besco gehen gar so weit, von einer „western vilification of fatness“  in postmodernen kapitalistischen Patriarchaten zu sprechen.

Aber woher rührt diese negative symbolische Bedeutung von Übergewicht und Fettleibigkeit? Wieso werden in postmodernen kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaften Mehrgewichtige diskriminiert? Nachfolgend werden 4 Ansätze vorgestellt, die mögliche Antworten auf diese Frage liefern sollen, namentlich:

  • Das Gebot der kapitalistischen Wunschregulierung
  • Die Regeln der Biomoralität und
  • Die Möglichkeiten der biotechnischen Gestaltbarkeit von Körpern
Gewichtsdiskriminierung Bild von mohammed Hassan aus pixabay
Die Symbolische Bedeutung von Mehrgewicht ist stark negativ besetzt - Beispielsweise werden Mehrgewichtige als exzessiv, disziplinlos und ungehemmt wahrgenommen.

Kapitalistische Wunschregulierung als Begründung für Gewichtsdiskriminierung

Für die amerikanische Philosophin und Geschlechterforscherin Susan Bordo hängt der Grund für die Diskriminierung von Mehrgewichtigen mit dem Kapitalismus zusammen. In „Reading the Slender Body“ interpretiert sie den schlanken, den anorektischen und den übergewichtigen Körper unter Rückbezug auf Robert Crawfords Überlegungen zu kapitalistischen Konsumgesellschaften:

Als Produzenten von Waren und Dienstleistungen müssen wir in diesen Gesellschaften unseren Wunsch nach sofortiger Befriedigung unterdrücken und unsere Arbeitsmoral fördern. Als Verbraucher dagegen müssen wir eine grenzenlose Fähigkeit zum Konsum an den Tag legen und unsere sofortige Wunschbefriedigung pflegen. In einer solchen kapitalistischen Gesellschaft, in der wir umlagert von Versuchungen sind, gleichzeitig aber ständig Leistung erbringen müssen, wird die eigene Wunschregulierung zur andauernden und allgegenwärtigen Herausforderung.

Der schlanke Körper lässt sich in diesem Kontext als Symbol für die perfekte Kontrolle über die eigenen Wünsche lesen: Wer schlank ist, hat sich selbst und die eigenen Wünsche unter Kontrolle. Anorexie dagegen gilt als eine extreme Form der Selbstverleugnung und Unterdrückung von Wünschen: Wer unter Anorexie leidet, hat zwar versucht die gesellschaftlichen Regeln zu beachten, ist aber „über das Ziel hinausgeschossen.“ Und Übergewicht gilt aus dieser theoretischen Brille betrachtet als eine extreme Form der Kapitulation vor Wünschen: Wer mehrgewichtig ist, hat die Regeln zur Wunschregulierung missachtet. Obwohl beide Extreme – Anorexie und Übergewicht – als inkorrekte Wunschregulierungen angesehen werden, wird Übergewicht stärker verurteilt. Das liegt daran, dass Übergewicht als bewusste Verletzung der Regeln wahrgenommen wird, während Anorexie als ein missglückter Versuch zur Befolgung der Regeln angesehen wird.

Mit Susan Bordo argumentiert, werden Mehrgewichtige also deshalb diskriminiert, weil sie vermeintlich ganz bewusst die Regeln des Kapitalismus nicht befolgen.

Biomoralität als Begründung für Gewichtsdiskriminierung

Neben Susan Bordos Überlegungen zur korrekten Wunschregulierung in kapitalistischen Gesellschaften kann auch das Konzept der Biomoralität Aufschluss darüber liefern, warum Mehrgewichtige diskriminiert werden:

Biomoralität beschreibt, wie bestimmte Verhaltensweisen, die als gesundheitsfördernd oder gesundheitsgefährdend betrachtet werden, moralisch bewertet werden. In unserer postmodernen Gesellschaft sind Gesundheit und Lebensglück beispielsweise zu gesellschaftlichen Imperativen geworden: Es gilt als moralische Verpflichtung, gesundheitsfördernde Maßnahmen wie ausgewogene Ernährung, körperliches sowie mentales Training in das eigene Leben zu integrieren. Die Orientierung an gesundheitsrelevanten Prämissen führt dabei zu normativen Körpervorgaben – sprich zu Ideen darüber, welche Körper als normal/anormal, geeignet/ungeeignet oder brauchbar/unbrauchbar gelten – sowie letzten Endes auch zur Klassifizierung von devianten Körpern, die von diesen Norm- und Idealbildern abweichen. Im Kontext der Biomoralität ist die Arbeit am eigenen Körper also nicht nur ästhetisch, sondern vor allem gesundheitsorientiert motiviert.

Aus der Perspektive einer Biomoralitäts-Logik betrachtet, werden mehrgewichtige Menschen nicht nur als leistungsunfähige und unangepasste, sondern vor allem als ungesunde Menschen wahrgenommen und deshalb diskriminiert. 

"Hinsichtlich unserer Körper sind wir zu Unternehmerinnen und Unternehmern geworden, zu Gestaltern unseres Selbst. Am Körper leben wir unseren Schaffensdrang aus, über Körperlichkeit verleihen wir unserer Persönlichkeit Ausdruck. Menschen managen heute nicht nur ihr Leben, sie managen auch ihren Körper." (Waltraud Posch)

Biotechnik als Begründung für Gewichtsdiskriminierung

Der Körper ist heutzutage zum Projekt geworden und seine kontinuierliche Optimierung zur Pflicht. Am Körper leben wir unseren Schaffensdrang aus, über Körperlichkeit verleihen wir unserer Persönlichkeit Ausdruck. Dieser Vorstellung vom Körper als Projekt liegt ein seit den letzten Jahren aufgekommenes Bild zugrunde, demgemäß der Körper als prinzipiell optimierungsfähig und entsprechend (bio­)technisch gestaltbar  verstanden wird. Praktiken wie Ernährung, Sport und auch Schönheitschirurgie werden in diesem Zusammenhang als Möglichkeiten angesehen, den Körper zu formen.

Vielleicht werden Mehrgewichtige also auch deshalb weiterhin diskriminiert, weil wir unseren Körper angeblich biotechnisch beliebig verändern könnten und damit vermeintlich ein hohes Maß an Kontrolle über unser Gewicht hätten (im Gegensatz zu Geschlecht oder Rasse, die häufig – wenn auch fälschlicherweise – als feste, statische Identifikatoren angesehen werden).

Gewichtsdiskriminierung entgegenwirken

Das Gebot der Wunschregulierung im Kapitalismus, die Regeln der Biomoralität und die biotechnische Gestaltbarkeit unserer Körper – sie alle liefern mögliche Antworten auf die Frage, weshalb die Diskriminierung von Mehrgewichtigen noch immer eine weit verbreitete Form der Diskriminierung in unserer Gesellschaft ist und das obwohl Vielfalt und Inklusion mittlerweile als wichtige Werte anerkannt wurden und Unternehmen sowie die Gesellschaft insgesamt sich verstärkt für Gleichberechtigung und Chancengleichheit einsetzen.

Fakt ist aber, dass Diskriminierungen – egal welcher vermeintlichen Logik sie folgen –nie in Ordnung sind. Und die Diskriminierung von Mehrgewichtigen bildet dabei keine Ausnahme.

Jeder Mensch hat das Recht, gleich behandelt zu werden und zwar unabhängig von Merkmalen wie Geschlecht, Rasse, Religion, sexueller Orientierung, körperlicher oder geistiger Fähigkeit, Alter – und ja, auch unabhängig vom Gewicht. Wenn Menschen aufgrund solcher Merkmale benachteiligt oder schlechter behandelt werden, trägt das zur Spaltung und Ungleichheit in der Gesellschaft bei. Diskriminierung untergräbt das soziale Gefüge und die Solidarität in einer Gesellschaft und steht im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten.

Insofern muss auch die Diskriminierung von Mehrgewichtigen mehr anerkannt und aktiv gegen sie vorgegangen werden..

Ob als Autorin, Texterin, Dozentin, Business Trainerin oder Speakerin:

Erfahre mehr über die Themen Gewichtsdiskriminierung, Körperbilder und Körperwahrnehmung

Quellen:

Bordo, Susan: “Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body” Berkeley: Uni-versity of California Press, 1993

Degele, Nina. „Schönheit und Attraktivität“ In: Handbuch Körpersoziologie, hg. von Robert Gugutzer, Gabriele Klein und Michael Meuser, 115–118 (Wiesbaden: Springer VS, 2017

Dimitriou, Minas. „Der postmoderne Körper im Wandel. Sport, Fitness und Wellness zwi-schen Gesundheitsorientierung, performativem Zwang und Optimierungslogik“ In: „Der Körper in der Postmoderne“, hg. von Minas Dimitriou und Susanne Ring-Dimitriou, 63–92 Wiesbaden: Springer, 2019

LeBesco, Kathleen und Jana Evans Braziel. „Editor’s Introduction“ In: “Bodies Out of Bounds”, hg. von Jana Evans Braziel und Kathleen LeBesco, Berkeley: University of California Press, 2001

Posch, Waltraud: „Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt“ Frankfurt am Main: Campus, 2009

Richardson, Niall: “Transgressive Bodies. Representations in Film and Popular Culture”, Farnham, Surrey et al.: Ashgate, 2010

Viehöver, Willy und Tobias Lehmann. „Biopolitik“ In: „Handbuch Körpersoziologie“, hg. von Robert Gugutzer, Gabriele Klein und Michael Meuser, 43–56, Wiesbaden: Springer VS, 2017

Bilder: 

copyright @pixabay (Mohammed_hassan)

Share:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mein Blog

Könnte dich auch interessieren